Onkel Osman beobachtete den Himmel, soweit er ihn durch den leicht
geöffneten Vorhang sehen konnte. Die Sterne sahen aus wie Perlen,
verstreut auf dunkelblauem Samt. Der Himmel war klar und hell, aber draußen war
es eisig kalt. Er legte seine alte, abgenutzte Strickjacke über die Schultern
und ging durch die Hintertür in den Garten. Kaum hatte er die Tür geöffnet, da
spürte er die trockene Kälte auf seinem Gesicht. "Das ist
Schneekälte", murmelte er. Alle Zeichen des Winters waren schon da, lange
bevor er selbst eintraf. Die kalte Luft, die seine Lungen füllte, ließ ihn zittern.
Der Frost hatte die herabgefallenen Blätter noch weiter ausgetrocknet, sodass
seine Schritte von knisternden und raschelnden Geräuschen begleitet wurden. Als
er unter die Pergola trat, schmiegte sich die getigerte Katze, die den Garten
ihr Zuhause nannte, um seine Beine. Kaum hatte er sich gesetzt, sprang sie auf
seinen Schoß und rollte sich zusammen. Es schien, als würde sie seine Gefährtin
in dieser schlaflosen Nacht sein…
Was war der Grund für diese Schlaflosigkeit?
Die Absolventengruppe der Schule, an der er letzten Monat in den Ruhestand
gegangen war, hatte ihn angerufen. Ehemalige und neue Absolventen wollten ihren
Lehrer Osman noch einmal hören. Diesmal würden sie die Geschichte ohne
Prüfungsangst anhören, nur um daraus zu lernen. Seit Tagen bereitete er sich
auf eine mehrmonatige Seminarreihe vor. Den ganzen Tag saß er am Schreibtisch
und bereitete seine Rede vor. Er dachte viel darüber nach und verbrachte
Stunden in der Bibliothek, um bestimmte Abschnitte zu vertiefen. Tagelang hatte
er ohne Pause gearbeitet. Deshalb tat es ihm jetzt gut, die kühle Luft zu
atmen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er den Himmel
betrachtete. Die strahlenden Blicke der jungen Menschen glichen den funkelnden Sternen
am Himmel. Die Vorstellung, mit ihnen zusammenzuarbeiten, seine Erfahrung mit
der jugendlichen Energie zu vereinen, begeisterte Onkel Osman. Deshalb konnte
er seit einiger Zeit nicht schlafen.
Warum entschied sich Onkel Osman zu arbeiten,
obwohl er seinen Ruhestand genießen könnte?
Eigentlich war es noch nicht lange her, dass aus Lehrer Osman Onkel Osman
wurde. Vor ein paar Jahren war er in den Ruhestand gegangen. Doch
Ruhestand bedeutete für ihn nicht, sich von allem zurückzuziehen. Schon längst
hatte er sein Haus in den Bergen in eine Bibliothek verwandelt. So wie der
Winter seine Ankunft frühzeitig ankündigt, hörte auch er die nahenden Schritte
seines eigenen Winters. Der Grund für seine Begeisterung, mit jungen Menschen
zu arbeiten, war sein Wunsch, vor seinem Abschied einige bleibende Werke zu
hinterlassen. Deshalb erzählte er Geschichte, teilte seine Erkenntnisse
aus historischen Quellen schriftlich und mündlich mit jungen Menschen. Das
Lesen und Erzählen von Geschichte hatte er schon immer geliebt. Es war ein
großer Vorteil, von denen zu lernen, die vor einem gelebt hatten, bevor das Leben
selbst seine Lektionen erteilte.
Geschichte war wirklich ein wahrer Schatz für
diejenigen, die sich dafür interessierten und forschten.
Während seiner Lehrjahre hatte er stets versucht, Geschichte über die bloße
Chronologie hinaus zu vermitteln. Offenbar war seine Mühe nicht vergebens, denn
heute würde er sich mit Hunderten von Schülern treffen, um über Geschichte zu
sprechen.
Nachdem Onkel Osman die Katze sanft an seinen Platz zurückgesetzt hatte,
blickte er wieder zum Himmel. Der Himmel zog sich zusammen, es kündigte sich
ein Unwetter an. „Diese historische Epoche erinnert mich an den Winter“, dachte
er. Eigentlich war Geschichte wie die Jahreszeiten, für den, der es
verstand zu lesen. Genau wie die Jahreszeiten hatte auch die Geschichte ihren
Winter und ihren Frühling. Kommen nicht vor jeder Jahreszeit Anzeichen? So war
es auch mit einer Gesellschaft, einem Land, einem Menschen oder einem Ereignis
– vor dem Erleben kamen stets die Zeichen. „Wer aufmerksam auf die
Vergangenheit blickt, kann auch verstehen, was jetzt geschehen wird, und auch,
was später geschehen könnte“, dachte er.
Als er sich auf den Weg zurück zur Arbeit machte, hatte er nun auch klar,
was er erzählen würde. Heute würde er seinen Schülern nicht nur Geschichte
beibringen, sondern ihnen auch erklären, wie man Geschichte richtig liest. Ein
Mensch, der aus der Geschichte nichts lernen kann, wird von den unbewältigten
Informationen erdrückt. In all seinen historischen Forschungen hatte er immer
wieder das Gleiche gesehen: Der Mensch und die Gesellschaft, die Erlebtes nicht
in Erfahrung umsetzen konnten, waren die Verlierer.
Als die Sonne aufging, erschien Gülce an der Tür des Arbeitszimmers. Sie
hielt ein Tablett mit dampfender Suppe in der Hand. An so einem kalten Morgen
konnte der Tag nur durch eine heiße Suppe schöner werden. Während er mit einem
Lächeln seiner Frau die heiße Suppe genoss, gingen ihm Fragen durch den Kopf,
die er seinen Zuhörern stellen wollte…
Wie sollten wir Geschichte lesen?
Zum Beispiel: Welche Bedeutung könnte es für unser individuelles Leben
haben, zu wissen, dass Istanbul 1453 erobert wurde?
Macht es uns erfolgreich, die Schritte der Erfolgreichen zu folgen?
Warum sollten uns die Erlebnisse einer längst nicht mehr existierenden Gemeinschaft
interessieren?
Wie können wir das Erlebte in Erfahrung umwandeln?
"Das Erlebte in Erfahrung umwandeln.." - Wie einfach gesagt, aber wie wichtig...
YanıtlaSilToller Artikel. Vielen Dank! 🌸